Nächstes Mal im Teutoburger Wald: „Dschungelkind“ (2011)

Mit der festen Absicht, mich kaputt zu lachen, habe ich mir den Film Dschungelkind angeschaut. Ich dachte mir: Wenn das deutsche Fernsehen Filme produziert, in denen Deutsche irgendetwas im Urwald machen, dann ist auf jeden Fall was für die gute Laune dabei. Zu lachen gibt es allerdings wenig: Der Film ist einerseits lächerlich bis gefährlich, andererseits besser als man denken würde.

Thomas Kretschmann und Nadja Uhl, beide bekannt dafür, dass sie wahllos in seriösen und trashigen Filmen auftreten, veredeln die eigentliche Schmonzette durch ihr Spiel. Von der liebenswürdigen Natürlichkeitsbombe Nadja Uhl bin ich Fan seit Sommer vorm Balkon, und wer Kretschmann in der eigentlich unmöglich ersthaft zu spielenden Rolle des guten Nazis in Der Pianist gesehen hat, weiß, was er alles repräsentieren kann.

Auch Regisseur Roland Suso Richter ist einer, der ganz schlimmen Schund (Die Spiegel-Affäre), aber auch Qualität (Mogadischu) verantwortet. Für Mogadischu haben alle drei schon zusammen gearbeitet, und das hat sich bewährt. In jenem Film interessierte mich die politische Dimension nicht besonders; ich habe den Film als eine davon beinahe unabgängige Tragödie gesehen. Es ging um Menschen in einer Extremsituation, und ganz nach dem Vorbild des amerikanischen Erzählkinos entsteht daraus etwas, das größer ist als die Wirklichkeit.

Dschungelkind versucht etwas Ähnliches: Der Film verzichtet auf eine Reflexion der Umstände und erzählt nur die Geschichte der Familie nach, die es zu einem Volk von Eingeborenen in Papua Neuguinea verschlägt. Ich bin kein Experte, aber gefühlsmäßig würde ich sagen: Das kann man ja wohl nicht einfach so machen. Dass der Film es trotzdem tut, ist das Lächerlich-Gefährliche an ihm. Das Fernsehvolk müsste eigentlich auf die Barrikaden gehen.

Denn während bei Mogadischu die Hintergründe, die zu der tragischen Katastrophe führen, zumindest angedeutet werden, werden wir in Dschungelkind Zeuge einer ziemlich unterräglichen Verharmlosung: was in Papua Neuguinea eigentlich passiert (zB Abholzung, Ausrottung, Ausbeutung) und was eine Praktik wie Sprachforschung damit zu tun haben könnte, wird komplett ausgeblendet. Wirklich komplett. Was wir sehen, ist eine Art Paradies, das einzig und allein durch die Sturheit, oder sagen wir ruhig: Dummheit der Paradiesbewohner bedroht ist.

Wenn man den Umstand weglässt, dass weder die Ideologie noch die Folgen dieses Eingriffs in irgendeiner Form kritisch betrachtet werden, dann ist die Geschichte durchaus bewegend. Das erklärt sich dem kritischen Publikum nicht unbedingt, weil es geblendet ist von der schreienden Dethematisierung von Machtverhältnissen.

Man kann sich, um den Film zu verstehen, als Experiment einmal vorstellen, das alles würde keine große Rolle spielen. Man kann sich vorstellen, das ganze würde nicht in Papua Neuguinea spielen, sondern, sagen wir, in der Antike in Germanien, also dort, wo weniger ethnologiekritische Einwände zu befürchten sind.

Die Fantasie geht dann so: Eine römische Familie lässt sich nieder, um die Sprache der Eingeborenen zu lernen und wird Zeuge einer blutigen Fehde. Mit viel Einfühlungsvermögen und Geduld bringen sie die Ureinwohner dazu, ihnen zu vertrauen. Während die eigene Familie fast an den Belastungen zerbricht und die eigene Mission immer fragwürdiger wird, verbessert sich kurzfristig das Leben der Germanen. Sie lernen Medizin kennen und können ihre Verwundeten retten, und sie befreien sich von einer selbstzerstörerischen, durch den Einfluss der Außenwelt nicht länger absoluten Ideologie. Am Ende gehen die Römer nach Rom zurück, und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Der Stamm wird unterworfen, der  Wald wird abgeholzt – oder auch nicht, aber das ist dann eine andere Geschichte.

So erzählt, könnte man vielleicht etwas damit anfangen. Man erkennt dann, hinter dem ganzen kolonialistischem Irrsinn, bewegende Szenen: Der ständige Bürgerkrieg der Germanen treibt eine der Töchter (Milena Tscharntke) fast in den Wahnsinn. Sie halten stundenlange Kriegstänze mit Todesfolge direkt vor dem Haus der Römer ab. Der Vater, von Kummer und Sorge halb irre, vergisst seine oberste Direktive der Nichteinmischung und stürmt nach draußen; er zerbricht Pfeile und Bögen, schreit die Barbaren an, fleht sie an, endlich mit dem Theater aufzuhören. Einige der Barbaren hören es schließlich, das Schluchzen der Tochter und fangen an zu begreifen, was ihre männliche Aggressivität für den Rest der Welt und für sich selbst bedeuten könnte.

Solche Szenen gibt es einige in Dschungelkind, und sie tragen den Film vorwärts. Es ist hier, in der Inszenierung von Dramatik, wo der Film besser ist, als man denken würde. Denn die eigentlich holzschnittartgen Figuren, allen voran der Familienvater und sein Gegenüber, der Häuptling (Rex Kia), werden dadurch interessant, weil sie eingeschränkt und schwach, aber auch wandlungsfähig und zur Selbstkritik bereit erscheinen. Nichts ist verloren, denkt man in diesen Augenblicken; es gibt immer Dinge, die Menschen anders machen können als bisher. Und damit wären wir immerhin wieder bei einem der Merkmale, die das amerikanische Erzählkino so erfolgreich machen: wir sehen Menschen als Individuen, und wir sehen sie auf der Leinwand größer und erstaunlicher als in der Wirklichkeit möglich wäre.

Das manche der Figuren es geschafft haben, zumindest mich zu berühren, ist vielleicht das Unheimlichste an der ganzen Sache. Denn bekanntlich werden schädliche Ideologien am besten vermittelt, indem man sie vergessen macht. Ich bin sicher, dass keiner der am Film Beteiligten bewusst für die Ausbeutung anderer Menschen wäre. Trotzdem inszenieren sie zusammen eine Reinwaschung: Denn wer Figuren lieb gewinnt, möchte ihnen nichts übel nehmen. D.h. wer Kretschmanns Figur nett findet, wagt nicht mehr zu fragen, ob er irgendwie auch ein Vertreter einer Kultur der Ausbeutung ist.  Auf eine Art ist der Film also schlimmer als echter Trash, denn er verbindet bösartige Inhalte mit künstlerischer Qualität. Ich vermute oder hoffe mal, dass das gesamte Filmteam während der Dreharbeiten deswegen Bauchschmerzen hatte.

Warum muss das Ganze eigentlich im Dschungel spielen anstatt im Teutoburger Wald? Weil es sonst ein Motiv nicht geben kann, dass für den Erfolg maßgeblich ist: die Autobiographie, die wahre Geschichte. Darauf beruht der Erfolg der Buchvorlage – und natürlich würde ein Film über irgendwelche obskuren Dschungelbewohner niemals produziert werden, wenn nicht irgendwo eine echte Deutsche damit zu tun hätte. Und das ist auch, was den Film am Ende wieder so lächerlich macht, dass er doch als großer Quatsch gelten kann.

Das Ekelhafteste an der Erzählweise des Films ist wohl, dass er die Erzählerfigur Sabine, die Tochter der Sprachforschers, die immer wieder zurückblickend zusammen fasst, so ernst nimmt. Hier handelt es sich um eine, die von sich selbst glaubt, „zwischen den Welten“ zu stehen. Kein Wort davon, dass Millionen in unserem Land zwischen Welten stehen, ohne dass sie die Chance hätten, mit dem Hubschrauber nach Belieben zwischen diesen Welten zu pendeln. Gehört nicht zur Geschichte dazu.

Kindliche Perspektiven sind toll, aber wenn sich ein Kind auch als Erwachsene selbst zum unschuldigen Held in einer Fantasiewelt macht, in der sich alles um sie dreht, dann hört der gute Ton meines Erachtens auf. Wie die Figur in dem Song „Common People“ von Pulp, die Elitestudentin, die am Ende immer Daddy anrufen kann, wenn Kakerlaken die Wand hochkrabbeln, ist sich Sabine nicht bewusst, wie arrogant sie auftritt.

Die Figur des Fayu, der die Erzählerin heiraten will und den sie ebenfalls liebt, scheint mir die dreisteste Erfindung zu sein. Denn sie ist nötig, damit es gerechtfertigt scheint, dass Sabine am Ende der Geschichte abreist. Denn sie braucht für sich selbst den Glauben daran, dass sie eigentlich bei ihrem Volk bleiben möchte. Dafür müsste sie allerdings auf alle Privilegien verzichten, die ihre Herkunft ihr bietet, und das ist bekanntlich nur für Kinder leicht. Sobald sie erwachsen wird, sieht sie ihren eigenen Fall realistischer – es wäre für die Erzählerfigur ehrenhaft gewesen, das zumindest zum Teil zuzugeben und nicht auf den tragischen Tod ihres Verlobten zu schieben. Denn nach dem er überraschend an Tuberkulose stirbt, kann sie den Dschungel plötzlich nicht mehr ertragen (fast so als ob dort vorher nie jemand gestorben wäre, ist das Paradies damit zerstört) – und los geht es mit dem Studium.

In der neuen Heimat beeindruckt Sabine ihre neuen Studienkolleginnen damit, dass sie eine ins Zimmer eingedrungene Spinne nicht einfach tothaut, sondern behutsam hinausbefördert. Die neuen Freundinnen, die nichts weiter als die Zivilisation kennen, sind beeindruckt: so etwas haben sie noch nie gesehen. Das ist das letzte der vielen lächerlichen Motive des Filmes: dass das Leben im Urwald aus Menschen bessere Menschen macht. Es gibt also doch noch was zu lachen.

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